Ohne Waage leben – ein Abschiedsbrief

In meinem Leben ändert sich gerade vieles. Aber ein Abschied kam ganz ohne Vorankündigung. Nicht mal ein leises Tschüss. Wie jeden Morgen ging ich müde ins Bad, und wusste, dass sie wohl keine gute Nachrichten für mich hat. Ein Morgenritual der schlechten Laune, ein schnelles kurzes Wiegen. Ich wollte die Waage wie immer unter dem Schränkchen hervor ziehen. Aber sie ist weg. Dann muss ich wohl ein paar Abschiedsworte schreiben.

Ein paar letzte Wort an meine Waage:

Liebe Waage,

ok, ich war nicht wirklich freundlich zu dir. Aber du auch nicht zu mir! Ich habe keine Ahnung, wer von uns angefangen hat. Ich etwa? Stimmt schon, du warst ja nur ein silberfarbenes Gerät. Und in welche Richtung dein roter Zeiger sich bewegte, dass hatte reichlich wenig mit dir zu tun. Du stehst nicht mehr an deinem angestammten Platz. Schlaftrunken wollte ich mich auf dich stellen. Ging nicht. Komischerweise fühlte ich da eine ziemliche Leichtigkeit.

Gekauft habe ich dich nicht. Warst du ein Geschenk oder hat mein Ex-Partner dich gekauft? Keine Ahnung. Eigentlich habe ich auch keinen deiner Vorgänger angeschafft. Aus irgendeinem Grund gab es immer Menschen, die der Meinung waren, dass ich mein Gewicht wissen müsse. Das war von Anfang an so. Meine Mutter erklärte mir, dass zur Säuglingspflege 1970 ein tägliches Wiegen dazu gehörte. Als gute Krankenschwester führte sie auch die ersten sechs Monate meines Lebens eine Gewichtstabelle. “Du hattest ja auch so süße Pausbacken.”

Als Kind wurde ich später immer wieder auf die Waage gestellt. War ich etwa zu schwer für meine Größe? In einer Kinderkur 1975 sah man das anders und päppelte mich auf. Zum ersten Mal in meinem Leben zwang man mich zum Essen, und ich kam mit ein paar kleinen Speckröllchen am Bauch zurück vom Meer. Dabei war ich dort eigentlich wegen einer Bronchitis. “Ich bin viel zu fett” – das haben mir deine Schwestern, liebe Waage, früh eingeredet. Oder waren es Menschen in meinem Umfeld? Als Teenager schrieb ich erboste und verzweifelte Beiträge in mein Tagebuch. Als 20-something gab es Phasen, in denen ich mich nicht nur täglich wog, sondern genau Buch führte.

Ohne Waage als Baby

Ziemlich viel Babyspeck und ziemlich wenig Haare: Silke 1970 (c) Plagge

Beinahe jeden Morgen seit ein wenig mehr als 47 Jahren zeigt mir nun also eine Waage mein aktuelles Gewicht an. Ein bisschen weniger als gestern? Juhu. Mehr? Oh. Ich Versagerin. Selbst in den Schwangerschaften fand ich die Sache mit dem Gewicht schwierig. Ich nahm nämlich zunächst reichlich viel ab. In der ersten Schwangerschaft konnte ich in den ersten Wochen kaum etwas essen und verlor fast zwölf Kilo, beinahe hätte ich mich im Krankenhaus wiedergefunden. In der zweiten Schwangerschaft war der Bauch zwar voluminös, aber ich hatte wenig Gewicht zugelegt. Frauenarzt und Hebamme schimpften mit mir. Zum ersten (und letzten) Mal sagte man mir, ich müsse unbedingt essen. Dabei tat ich das.

Nach den Geburten pendelte sich mein Gewicht wieder ein. Leider nicht ganz so optimal, eher im oberen Bereich. Du könntest jetzt lachen. Ja, liebe Waage, du wusstest Bescheid. Du konntest genau sehen, in welchen Phasen meines Lebens es mir mies ging. Denn genau dann hattest du viel zu tun. Entweder weil ich so unregelmäßig und schlecht aß, dass ich kräftig zunahm, oder weil ich zu wenig essen mochte. Ersteres war ein Zeichen, dass ich negativen Stress hat. Bei großem Glück und heftiger Traurigkeit nahm ich meist ab. Du hast die Gefühle dann immer verstärkt: War ich gestresst, zeigtest du mir auch noch eine böse Zahl an. War ich glücklich, konnte ich mich schlank fühlen. Bei Kummer war mir das egal. Aber gut hast du mir nicht getan.

Und jetzt? Bist du einfach weg. Hast beschlossen, dass du nicht in meiner Wohnung nach der Trennung bleibst. Nun stehts du noch in einem Umzugskarton oder in einem anderen Bad. Und weißt du was? Du wirst das vielleicht nicht mögen. Aber ich vermisse dich nicht. Denn ehrlich gesagt, weiß ich doch in Wirklichkeit sehr genau, ob mein Gewicht ok ist. Dazu brauche ich keinen Spiegel. Es gibt schließlich den Jeans-Test. Ich habe so eine Hose, wenn die gut passt, dann bin ich eigentlich recht zufrieden. Auch sonst merke ich doch, ob ich mich fit und beweglich fühle oder zu viele Gramm herumschleppe.

Ohne Waage ist vieles leichter

Wiegen und vermessen – und sich mies fühlen? (c) www.pixabay.com

Eigentlich ist es doch auch ganz egal, was du mir anzeigst. Denn die Zahl der Kilos sagt nichts darüber aus, wie gesund mein Körper ist. Und der ist echt ganz schön geduldig. Fast 47 Jahre lang war ich so grummelig und habe immer viel auszusetzen gehabt. Natürlich mag ich einiges nicht. Aber ich mochte meinen Körper leider auch in den – im Rückblick gesehen – hübschesten Zeiten nicht. Der Busen zu groß, der Po zu üppig. Und du – Waage – hast dazu beigetragen. Ich glaube, ich werde dich nicht ersetzten.

Also, mach es gut. Ich werde nun ein neues Leben ohne ständiges Wiegen leben. Und wenn ich mich aus Versehen doch mal auf eine deiner Schwestern stelle … dann lass ich mich überraschen, aber den täglichen Vergleich gibt es nicht mehr. Fällt mir erstaunlich leicht, diese neue Leichtigkeit. Ich esse einfach bewusster, bewege mich gern und manchmal gönne ich mir jetzt auch etwas mit sündigen Kalorien. Du kannst ja nun nicht mehr strafen.

Mach es gut – aber ohne mich!

Deine Silke

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.