Essen als Abenteuer: mehr Wildes wagen!

Vor 17 Jahren, in der Jugendblüte unserer Beziehung, habe ich meinen heutigen Mann mal mit einem Oktopus beeindruckt. Es war auf einer unserer ersten gemeinsamen Reisen, in Venedig, in einem kleinen Lokal namens „Antica Sacrestia“. Die Gerichte auf der Karte nahmen die dort wörtlich. Auch den Tintenfisch. Was da vor mir auf dem Platzdeckchen stand, war kein Nahverkehrs-Seafood-Salat, sondern ein ziemlich komplettes Stück Tier inklusive Tentakel. Hatte ich so auch noch nie gesehen, jedenfalls auf dem Teller. Essen als Abenteuer. Fand ich spannend, schnitt ich an und schob ein Gäbelchen davon über den Tisch, wie es sich für frisch Verliebte gehört. Am nächsten Tag revanchierte Dierk sich dann mit „Sarde in saor“. Einem typisch venezianischen Fischgericht, bei dem das Auge eher nicht mitessen sollte, die Zunge aber sehr wohl. Später hat er mir mal erzählt, dass ihn meine Abenteuerlust beim Essen damals mindestens so sehr bezaubert hat wie mein – haha! – Luxuskörper oder meine klugen Gedanken. Eine Frau, die nicht das Low-Fat-Dressing vom grünen Salat abkratzt oder erstmal eine lange Liste von exotischen Unverträglichkeiten abarbeitet, sondern gerne mal was Neues schmeckt – das hat ihm gefallen.

Essen als Abenteuer: lieber Oktopus-Expedition als Plätzchen-Diät

Daran musste ich denken, als ich dem selben Mann letzte Woche in einem sehr edlen Hamburger Fischlokal gegenüber saß. Dessen nüchterne Shabby-Chic-Einrichtung lässt nicht auf den ersten Blick darauf schließen, was für ein Feuerwerk die Küche abbrennt. „Jellyfish“ heißt der Laden, ein Tipp von meinem Gastro-Expertenfreund Stevan Paul, der sehr viel kundiger als ich beschreiben kann, was es dort zu essen gibt und warum das so sensationell ist. Anders als Stevan bin ich ja kein Geschmacksprofi, sondern kann nur laienhaft überwältigt genießen, wenn so ein Symphonieorchester von Aromen, Texturen und Farben auf meiner Zunge seinen satten Sound schmettert.

Abenteuer Essen

So schön kann Pulpo aussehen: Oktopus-Kreation von “Jellyfish” (c) Restaurant Jellyfish/Susanne Dittrich (www.susannedittrich.de)

Der Name ist ein Witz: Quallensüppchen gibt’s bei Jellyfish natürlich keins, und selbstverständlich auch keine gedruckte Karte. Viel zu profan. Auch keinen Kellner, sondern eher einen Menü-Coach: einen aufmerksamen persönlichen Reiseführer, der die Speisen auf einer handgeschriebenen Tafel erläutert. Die quälenden Wahl kann der einem aber auch nicht abnehmen: Jacobsmuscheln oder (ta-daaa!) Oktopus, Kabeljau oder Loup de Mer, mit Weinbegleitung zum jedem Gang oder persönliche Trink-Beratung? Hach, man kann sich nicht entscheiden, möchte am liebsten alle sieben Portionen plus Weinkarte rauf und runter, nimmt dann vier Gerichte plus eine Flasche Rosé und freut sich über gleich zwei formvollendete Grüße aus der Küche. Wie man Fisch und Meeresfrüchte so kombinieren kann, und in welchen abgefahrenen Aggregatszuständen servieren!

Das hat mich nicht nur an den venezianische Oktopus aus dem Jahr 2000 erinnert. Sondern auch an das Erlebnis, wenn man nach einer Woche Heilfasten zum ersten Mal wieder feste Nahrung zu sich nimmt. Da schlagen auch die Aromen eines hundsgewöhnlichen Supermarktapfels auf der Zunge Salto, weil die Geschmacksknospen so entwöhnt sind. Diesmal hatte ich kein Heilfasten hinter mir, sondern mehrere Wochen vorweihnachtliche Plätzchen-Diät auf Zuckerbutterbasis, aber trotzdem: Selten hat ein Kürbis so nach Kürbis, eine Jacobsmuschel so nach Jacobsmuschel, eine Rote Beete  so nach Roter Beete geschmeckt!

Abenteuer Essen

Heilbutt & seine besten Freunde: tolles Team aus Hamburg-Eimsbüttel (c) Restaurant Jellyfish/Susanne Dittrich (www.susannedittrich.de)

Warum mir dieser feine Abend einen Blog-Eintrag wert ist? Weil ich es schade finde, wie uns allen die Abenteuerlust flöten geht. Auch auf dem Teller. Denn leider ist es gerade Teil des Zeitgeistes, überall Gefahren zu wittern statt Möglichkeiten. Im Leben, aber auch beim Essen. Was wir zu uns nehmen, ist ein Riesenthema geworden, durchaus mit Recht: Von politischen Fragen (übernehmen Konzerne die Patente auf unsere Ernährung?) bis zu unserer Gesundheit (bekommt uns vegan oder paläo wirklich besser als Normalo-Mischkost?). Über Lebensmittel lässt sich köstlich diskutieren. Ist auch gut so. Genau so wie es gut ist, dass es heute eine viel größere Auswahl an Nahrungsmitteln für Menschen mit Allergien und Unverträglichkeiten gibt.

Essen als Glücklichmacher, Essen als Problemfall

Nur leider kommt uns über dem ganzen Problembewusstsein etwas Entscheidendes abhanden: die Lust, die Sinnlichkeit, die Neugier auf abgefahrene Expeditionen und wilde Kreationen. Nicht der Gesundheit zuliebe und auch nicht dem Weltfrieden, sondern einfach aus Übermut und Experimentierfreude: Mal gegrillte Heuschrecken probieren, mal im japanischen Lokal etwas anders bestellen als Thunfisch-Sushi (ist sowieso ökologisch fragwürdig), mal die seltsamen indischen Süßigkeiten auf der Zunge zergehen lassen, die nach dem Tandoori Chicken gereicht werden. Auch jede Region in Deutschland hat ihre oft fast vergessenen Genüsse. Junges Gemüse in Milch gekocht aus dem Norden, Weinbergschneckensuppe aus dem Südwesten.

Klar ist auch mal ein Flop dabei, ob regional oder exotisch: Drachenfrucht, zum Beispiel, ist optisch das Topmodel oder den Früchten, schmeckt aber fader als ein Stück Dosenbirne. Geschenkt. Manchmal gilt eben auch beim Essen das olympische Motto: Dabeisein ist alles. Es gibt allerdings auch Grenzen, sogar für furchtlose Esser wie mich. Vor Jahren war ich für eine Reportage in China, das Töchterchen unseres Tourist-Guides bot mir freundlich ihre Tüte mit frittierten Entenfüßen zum Probieren an. Da musste ich ganz schnell eine Magenverstimmung erfinden, um den diplomatischen Frieden nicht zu gefährden.

Jetzt wollt ihr sicher wissen, was es bei mir zu Weihnachten gibt. Ich traue es mich fast nicht zuzugeben: Gans mit Knödeln. Und Rotkohl. Und Sauce. Das Gegenteil von Abenteuer. Aber, mal ehrlich: Das Jahr hat 364 Tage für kulinarische Experimente. Und einen, an dem alles am schönsten ist, wenn es so schmeckt wie immer.

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