Spontanausflüge: Ich schenk mir Zeit

Am Montag, den 16. Oktober, habe ich mir einen Tag geschenkt. Dabei stand zu dem Datum eigentlich einiges auf dem Zettel: Änderungen im Hörspielmanuskript eingeben, private Website aktualisieren, mich um einen neuen Vorhang fürs Schlafzimmer kümmern und um Theaterkarten zum runden Geburtstag meines Vaters. Aber ich habe den imaginären Zettel einfach zerknüllt. Alles wichtig, aber nichts, das nicht noch einen Tag Aufschub erduldet hätte. Jedenfalls nicht angesichts der Tatsache, dass die Temperaturen plötzlich in Norddeutschland an der 20-Grad-Marke kratzten, die Leute in ihren Dünndaunenjacken schwitzten und meine Kinder gerade Herbstferien haben. Also statt Schreibtisch und Besorgungen einen Spontanausflug an die Ostsee, nach Travemünde.

Nicht perfekt ist auch perfekt

Ein perfekter Tag, gerade deshalb, weil eigentlich gar nichts mehr perfekt war im Seebad: Strandkörbe weg, Meer mit 13 Grad zu kalt zum Baden und das Lieblingseis aufgegessen. Weil keiner der Imbissbudenbetreiber mit so einer triumphalen Rückkehr des Sommers gerechnet hatte. Doch, einer: Der Typ, der an der Strandpromenade das Bungee-Trampolin betreibt. Im zweiten Fünf-Minuten-Slot schaffte auch mein Neunjähriger den Salto rückwärts, danach gruben die Kinder mit Riesenschaufeln eine Riesenkuhle, und ich schaute aufs Meer und dachte mir Plots für imaginäre Romane aus. Als wir uns um fünf auf den Rückweg zum Auto machten, fühlte ich mich wie nach einem Wellnesswochenende. Ach was: Wie nach zwei Wochen Urlaub in Italien.

Spontanausflüge

Spontanausflüge – fühlt sich an, als würde man sich selbst Blumen schenken (c) Verena Carl

Spontanausflüge: früher die Regel, heute unter Artenschutz

Geschenkte Tage, Spontanausflüge sind selten geworden in unserem Leben. Mit „uns“ meine ich nicht nur meine Familie, sondern mein ganzes Umfeld. Das liegt nicht nur an der höheren Schlagzahl der Welt, die uns mehr abfordert an Kommunikation, an Leistung, an Kinder-Coaching und Körper-Perfektion. Das liegt auch am Alter. Wohl jeder kann Geschichten aus seiner 20-something-Zeit erzählen, die von herrlicher Tagedieberei erzählen: Wie man die Uni geschwänzt und lieber mit dem neuen Kerl im Bett geblieben ist; wie man mit einer Freundin nachts um eins beschlossen hat, auf der Stelle nach Südfrankreich zu fahren. Klar: Auch damals waren diese dem Leben abgeknapsten Tage selten und kostbar. Wie die volle Augenzahl auf einem Würfel. Heute gleichen sie eher einem Sechser-Pasch beim Kniffel: Wann kommt es schon mal vor, dass alle Aufgaben Aufschub dulden, kein Chef die Pläne durchkreuzt und – für die Eltern unter uns – auch keine drohenden Mathe-Arbeiten oder Fußballturniere anstehen?

Unbezahlbar: Schulschwänz-Feeling auch für die Großen

So strampeln wir brav im Hamsterrad und lassen uns von unserem Über-Ich zur Schnecke machen, wenn wir ausnahmsweise auf alles pfeifen. Interessanterweise bricht meistens gar nicht das befürchtete Chaos aus, wenn wir’s dann doch einmal tun. So hat sich vor einigen Jahren die Journalistin und Autorin Meike Winnemuth nach einem Gewinn bei Günter Jauch gleich ein ganzes Jahr Weltreise-Auszeit geschenkt und danach verblüfft festgestellt: Sie hätte das sichere Finanzpolster nicht einmal gebraucht, um sich diesen Traum zu erfüllen. Ich kenne sogar eine Journalistenkollegin, die ihren Sohn die Schule schwänzen lässt, wenn das Wetter draußen allzu sehr lockt.

Nichtsnutz? Ja, bitte!

Ich finde, wir sollten das häufiger tun: einfach mal in den Sack hauen. Nicht immer auf den perfekten Zeitpunkt warten, sondern auch mal einen halbperfekten Zeitpunkt hinnehmen und genießen, was uns die unerwartete Leerstelle bietet. Das kann was ganz Großes sein wie eine Weltreise, was Mittelgroßes wie ein Tag an der Ostsee oder auch nur eine geschenkte Stunde, in der man ins Nachbar-Stadtviertel fährt und sich dort ein Café sucht, in dem man noch nie war. Solche Phasen, kürzer oder länger, sollten eigentlich unter Artenschutz stehen. Nur eines darf die geschenkte Zeit unter gar keinen Umständen sein: nützlich. Denn dann ist sie kein aufregendes Geschenk mehr, sondern allenfalls ein praktisches, wie Stricksocken unter dem Weihnachtsbaum oder ein Set Tupperschüsseln aus dem Sonderangebot. Und wir sind ja wohl alt genug für was Besseres. Oder?

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