Missbrauch im Internet: zwischen Wegschauen und Hysterie

Pornobilder, schlüpfrige Sprüche, Sexualtäter auf der Pirsch nach Opfern: Wenn Kinder im Web surfen, geraten sie häufig in miese Gesellschaft. Oft sogar, ohne es zu merken. Verena, selbst Mutter einer 11-jährigen und eines 9-jährigen, hat nachgefragt: Wie können wir sie schützen, ohne paranoid zu werden?

Herrlich, diese Stille im Kinderzimmer. Endlich mal eine Stunde aufs Sofa verziehen, während die lieben Kleinen nebenan alberne Youtube-Filmchen anschauen, digital phantastische Welten bauen oder WhatsApp-Nachrichten in ihre Klassengruppe schicken („Mathe war krass heute, oder?“). So läuft’s bei mir zu Hause, bei den Freunden meiner Kinder, und so lief’s vermutlich auch in der Familie des Mädchens aus einer Kleinstadt in Thüringen, dessen traurige Geschichte im vergangenen Jahr vor Gericht endete. „Na klar hat sie ein Smartphone, das haben doch alle!“, erzählte ihr Vater dem Richter. Nachdem ein 30jähriger Berliner die Zwölfjährige erst online angechattet und später in einem Hotel mehrfach sexuell missbraucht hatte. Erst als sie fürchtete, schwanger zu sein, offenbarte sie sich ihrer Familie.

Ein schockierender Einzelfall? Ja, aber mehr als das. Denn Missbrauch im Internet, also Übergriffe in den bonbonbunten Welten der Online-Games, Messengerdienste und Social-Media-Portale haben eine enorme Bandbreite. Und das Thema betrifft nicht nur Erwachsene, auch wenn die aktuelle #meetoo-Debatte vor allem von ihnen handelt. Im Netz sind vor allem Kinder die Opfer. Das fängt an mit dem einzelnen, anzüglichen Spruch auf Facebook, geht weiter mit dem Verschicken von Porno-Bildern und gipfelt in Erpressungen, Heimlichkeiten, Verabredungen zu Treffen.

Fand sexuelle Gewalt gegen Kinder früher fast ausschließlich im näheren sozialen Umfeld statt, in der Familie, Schule, Freizeiteinrichtungen, kommt die Gefahr heute immer häufiger aus den Untiefen des Netzes. Und existiert oft völlig unterhalb des elterlichen Radars. Vor allem seit dem Aufkommen des mobilen Web ist es kaum noch möglich, die digitalen Fußspuren der eigenen Kinder zu verfolgen: Bereits im Grundschulalter besitzt etwa jedes dritte Kind ein eigenes Smartphone, auf das oft auch kleinere Geschwister Zugriff haben. Das so genannte „Cyber Grooming“, also die gezielte online-Ansprache von Kindern, um sie real zu missbrauchen, ist nur die extremste Variante.

Missbrauch im Netz

Wo geht’s lang? Hinter der schönen Oberfläche verbergen sich auch Schmuddelecken (c) pixabay

Missbrauch im Internet: vom obszönen Spruch bis zur körperlichen Gewalt

„Wir müssen uns dringend mehr mit sexuellen Grenzverletzungen im Netz auseinandersetzen“, warnt der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig. „Die weitverbreitete Ahnungslosigkeit von Eltern, Erziehern und politisch Verantwortlichen setzt Kinder tagtäglich großen Risiken aus. Und eine klare Trennung zwischen der online- und der offline-Welt ist längt überholt.“ Thomas-Gabriel Rüdiger, Kriminologe und Cybercrime-Experte der Polizei-Fachhochschule Brandenburg, nennt bedrückende Zahlen: Die Zahl der Anzeigen wegen Anbahnung sexueller Gewalt gegen Kinder im Netz hat sich zwischen 2009 und 2014 fast verdoppelt, auf rund 2000 Fälle. Und das sind nur die aktenkundigen.

Julia von Weiler, Vorsitzende des Kinderschutzvereins „Innocence in Danger“, geht davon aus, dass allein in Deutschland 728.000 Erwachsene sexuelle Internet-Kontakte zu Kindern unter 14 haben – das wären je nach Menge der Kontakte etwa 1,5 bis 3 Millionen Betroffene, schätzt die Expertin. Dabei ist alles mitgezählt, vom einzelnen obszönen Chat-Spruch gegenüber Minderjährigen bis zum wiederholten körperlichen Missbrauch.

Vor einigen Monaten hat der Missbrauchsbeauftragte Rörig eine Expertise bei Sexualwissenschaftlern des Hamburger Universitätsklinikums (UKE) in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse jetzt vorliegen. Dazu haben die Wissenschaftler internationale Studien und Daten der vergangenen Jahre zusammengetragen, um mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Zwar betonen die Sozialwissenschaftler an mehreren Stellen, dass Kinder sich gegen ungewollte Anmache und explizite Bilder durchaus abgrenzen können, in dem sie „einfach wegklicken“. Ein Grund zur Beruhigung ist das aber nicht, findet Julia von Weiler: „Ein kleines Kind ungeschützt im Netz surfen zu lassen, das ist so, als würden sie es mit dem Roller und ohne Helm auf eine dreispurige Autobahn schicken“.

Smartphones verbieten? Schwierig!

Aber Kinder ganz aus dem Daten-Verkehr ziehen, ist eben auch schwer möglich. Und auch nicht realistisch in einer Zeit, in der Schulen mit Smartboards und Tablets ausgestattet werden und Fußball-Trainingspläne über Social-Media-Gruppen verschickt werden. Wie also den richtigen Mittelweg finden zwischen hilflosem Weggucken und Paranoia? Wer sind die Täter, wer wird zum Opfer? Überraschender Befund der Expertise: „Nur etwa die Hälfte der Täter sind im engeren Sinn Pädophile“, erklärt Julia von Weiler. Das sind die, die sich über lange Zeit gezielt an einzelne Kinder heranmachen. Kriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger kennt ihre Masche: „Täter dieses Typus geben sich teilweise in den Sozialen Medien oder bei Online-Spielen als jemand aus, der das gleiche Hobby hat, gleiche Interessen, und gewinnen so oft über Wochen und Monate das Vertrauen. Dabei gibt es unterschiedlichste Vorgehensweisen, auch über ihre eigene Identität täuschen die Täter nicht immer.“

Aus der UKE-Expertise geht hervor, dass sich nur rund fünf Prozent getürkte Profile basteln, in denen sie sich selbst als Kinder ausgeben. Den anderen reicht es, sich online „ein bisschen jünger, ein bisschen hübscher, ein bisschen weniger verheiratet“ (von Weiler) zu machen. Sexualstraftäter sind eben nicht zwangsläufig schmierige, alte Kerle: Seit 2014 waren die meisten Tatverdächtigen in der Kriminalstatistik Männer unter 30. Und es sind gerade die besonders verletzlichen Kinder, die online zum Opfer werden. Labile Mädchen, Kinder, die bereits in der eigenen Familie Gewalt erfahren haben – auch sexuelle – , pubertäre Jungen und Mädchen auf der Suche nach der eigenen sexuellen Orientierung. Wenn solche verunsicherten Seelen im Netz Anerkennung erfahren, sind sie eher bereit, eigene Grenzen zu missachten. Zum Beispiel nackt vor der Webcam zu posieren oder gar einem offline-Treffen zuzustimmen mit dem Fremden, der ihnen Liebes-Nachrichten schickt. Selbst wenn sie ahnen, worauf das hinausläuft.

Das könnte nun im Umkehrschluss heißen: Wenn wir unseren Kindern nur genügend Liebe und Anerkennung geben, suchen sie sich die auch nicht bei Fremden. Schon gar nicht im Web. Leider: So einfach ist es nicht. Denn da gibt es ja auch noch den zweiten Tätertypus. Ebenfalls überwiegend männlich und eher jung, aber mit anderen Motiven. Macht, Dominanz, den Kick des Verbotenen. „Der schreibt dann wahllos 20, 30 Mädchen an: Hey, zieh dich aus und schick mir dein Bild, weil er damit rechnet: eine wird schon reagieren“, weiß Julia von Weiler. Häufig ist den Tätern nicht einmal bewusst, dass sie sich dabei strafbar machen. Denn das Netz ist zwar genau so ein öffentlicher Raum wie etwa die Straße – aber ohne sichtbare Signalzeichen wie Stoppschilder, Ampeln, Polizeistreifen. Das gibt Usern das Gefühl: Was hier passiert, hat keine Konsequenzen.

Der beste Schutz: über Risiken und Gefahren aufklären

Aber welche hat es – abgesehen von den strafrechtlichen, wenn es denn zu einer Anzeige kommt? Experten sind sich keineswegs einig, welchen psychischen Effekt ungewollte sexuelle Anmache, aber auch pornographische Bilder langfristig erzeugen. „Man weiß noch nichts über die Spätfolgen, weil das Phänomen zu neu ist “, sagt von Weiler. Sprich: Die Sozialforschung hinkt der Technik automatisch hinterher. Die Kinderschützerin plädiert deshalb für Augenmaß: „Eltern sollten sich sehr gut überlegen, ab welchem Alter sie Kindern ein eigenes Smartphone erlauben, und welche Konsequenzen das hat“, rät sie. Also besser später als früher – und auch dann nicht alles erlauben, was technisch geht. Denn es ist ein Unterschied, ob 10jährige auf Youtube nur passiv Filmchen von Videobloggern anschauen, ob sie selbst kommentieren können, oder gar einen eigenen Kanal haben, der auch unerwünschte Zuschauer anlockt.

Schön wäre es, wenn sich das Problem technisch lösen ließe. Funktioniert aber nicht, sagt Kriminologe Rüdiger: „Jugendschutzprogramme orientieren sich typischerweise an Altersempfehlungen, die z.B. durch die USK vergeben werden. Das Problem sind häufig aber nicht die Inhalte, sondern zusätzliche Chat-Funktionen: Bunte, harmlos wirkende Chat-Sites und Spiele ohne Altersbeschränkung werden massenhaft genutzt, um sich an Kinder heranzumachen.“ Das beste Rezept gegen online-Übergriffe ist deshalb die älteste offline-Methode der Welt: reden. Julia von Weiler rät: „Bereiten Sie ihr Kind darauf vor, dass es vielleicht eklige Dinge zu sehen und zu lesen bekommt, wenn es sich im Netz bewegt. Besprechen Sie mit ihm, an wen es sich damit wenden kann.“ Die eigenen Eltern – aber vielleicht auch die Patentante, der Vertrauenslehrer, die Nachbarin, mit der ein solches Gespräch weniger peinlich ist. Und: „Es ist sicher nicht realistisch, Kindern private Postings wie Geburtstagsfotos zu verbieten – von solchen Interaktionen lebt ja das Netz. Aber sie brauchen ein Bewusstsein dafür, welche Bilder und Inhalte auf welche Weise missbraucht werden können.“

Was sich auch lohnt: Den Kindern auf ihren digitalen Streifzügen nicht ungeübt hinterherstolpern, sondern selbst dabei vorangehen. Ist schließlich ein Kinderspiel – das schaffen ja sogar Achtjährige. „Wenn mein Kind sich ein Online-Game herunterladen möchte, dann würde ich das mindestens eine Woche lang ausprobieren“, sagt Rüdiger. Nicht nur, um die Inhalte zu prüfen, sondern auch um zu sehen: Wo und wie kommt man dabei mit Fremden in Kontakt – und ist das gemeinsame Daddeln sogar Teil des Konzeptes, wie beim beliebten „Clash of Clans“? Und kann ich verantworten, dass im Spiel Nähe entsteht zu Menschen, über deren Absichten ich nichts weiß? Was dagegen tabu sein sollte: heimliche Kontrolle. „Ungefragt Chatnachrichten auf dem Smartphone nachzulesen, das ist genau so schlimm, wie wenn Sie im Tagebuch ihres Kindes stöbern“, findet von Weiler.

Ist auch gar nicht nötig. Schließlich haben Kinder das Recht auf ihre Privatsphäre. So lange sie wissen, wie sie die schützen können. Und wo sie sich Hilfe holen können, wenn jemand dort eindringt, der dort nicht hingehört. Liebe und Vertrauen nach innen, ein gesundes Misstrauen nach außen – das ist die beste Schutzausrüstung, die wir unseren Kindern mitgeben können. In Internet wie im wirklichen Leben.

 

 

 

 

 

 

One Reply to “Missbrauch im Internet: zwischen Wegschauen und Hysterie”

  1. Sabiene

    Sexuelle Übergriffe im virtuellen Raum sind ein echtes Problem gerade für Kinder und Jugendliche. Und ganz ehrlich bin angesichts der Tatsachen mehr als froh, dass meine Jungs bereits erwachsen sind.
    Was aber mindestens genauso schlimm ist oder zumindest sehr fies und kaum zu greifen ist das Mobbing im Internet. Ich habe kürzlich irgendwo eine Reportage über Betroffene Jugendliche gesehen und konnte ihr Leid und ihren Frust sehr gut nachvollziehen.
    Liebe Grüße Sabienes

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