Heimatgefühle: Wo gehöre ich hin?

Da standen wir also am vergangenen Wochenende im Sicherheitskorb auf der ausgefahrenen Drehleiter eines Feuerwehrfahrzeugs am Rand einer Kleinstadt im Münchner Südwesten. 30 Meter über dem Erdboden. Mein aufgeregter 8jähriger Sohn, seine Cousins, ich und der Mann meiner Halbschwester. Der ist zweiter Kommandant bei den örtlichen Brandschützern, besitzt den Schlüssel zu den Fahrzeug-Garagen und konnte deshalb einen ganz besonderen Programmpunkt auf dem Familienfest anbieten. Was für eine Gaudi. Und was für eine Aussicht das war: In der Ferne schimmerten die Hochhäuser der nächsten Kreisstadt, dahinter als bläulicher Schemen die Alpen, auf der anderen Seite der Münchner Olympiaturm. Da unten, zwei Straßen weiter, entdeckte ich die Gaststätte, in der gerade die örtliche Blaskapelle meinen Vater zu seinem 75. Geburtstag hochleben ließ.

Der Himmel der Bayern: auf der Drehleiter der freiwilligen Feuerwehr (c) Verena Carl

Heimatgefühle: Geborgenheit oder Enge?

Ich sah die Straßen des Ortes, die Häuser, die Kirche mit Maibaum, das ganze voralpine Drumherum und dachte: Heimat. So fühlt sich das also an. Wenn du jeden Menschen an jeder Straßenecke kennst, vom Feuerwehrfest, durch die Firma, vom Bäcker, aus der Grundschule deiner Kinder oder aus deinem eigenen Kindergarten von früher. Wenn du sämtliche Namen im Telefonbuch mit Gesichtern verbindest (oder wenigstens fast). Wenn du dein ganzes Leben lang die gleiche Autobahnausfahrt nimmst, um nach Hause zu kommen, wenn du in der selben Essecke Frühstück machst, wo schon deine Mutter dir vor 40 Jahren Frühstück gemacht hat, nur an einem neueren Tisch. Und mal wieder wusste ich nicht, ob ich sie heimlich beneidete, meine Halbschwestern und ihre Familien, in ihrer Geborgenheit und diesem selbstverständlichen Heimatgefühl. Oder ob ich ein bisschen Atemnot bekam bei der Vorstellung, das ganze Leben am gleichen Ort zu verbringen. Ich denke: Es ist ein bisschen von beidem.

Heimatgefühle

Stramme Wadeln für die Madln: bayerische Blaskapelle (c) pixabay

Mein Leben ist völlig anders, und ich denke, das hat auch mit dem Vorbild meiner Mutter zu tun, die ein Musterbeispiel für Mobilität ist – wenn auch nicht immer ganz freiwillig. Anders als mein Vater ist sie das Gegenteil von fest verwurzelt: Eltern aus Sachsen-Anhalt, in Berlin geboren, später an verschiedenen Orten gelebt – unter anderem in München, wo sich ihr Weg mit dem meines Vaters kreuzte. Aber nicht allzu lang. Als ich geboren wurde, lebte sie schon wieder in Freiburg, wo sich meine Großeltern in den Fünfziger Jahren eine neue Existenz aufgebaut hatten. Ich selbst habe später zwar in München studiert, meinen Vater und meine jüngeren Halbschwestern habe ich aber deutlich seltener gesehen als meine WG-Mitbewohnerinnen in München-Sendling. Dieses Leben, mit den Grillabenden auf der Terrasse und den netten Nachbarn, das war für mich wie Urlaub in einem exotischen Land – immer wieder gern, um mich zu erden, aber nicht als Dauerzustand. Zwischendrin war ich im Ausland – ein paar Monate in Sevilla zu Beginn der Neunziger, ein paar Monate in New York zu ihrem Ende –, und vor 18 Jahren bin ich nach Hamburg gezogen. Weil mir ein Job gefiel und die Stadt auch. Was bin ich nun: Freiburgerin – obwohl ich dort keine Verwandten mehr habe, weil meine Mutter mittlerweile auch im Norden lebt? Ex-Wahlmünchnerin? Hamburgerin oder ewiger Quiddje? Erstaunlicherweise hat fast jeder Dialekt einen Begriff für jene Neuankömmlinge, die immer ein wenig außen vorbleiben. Auch nach Jahrzehnten.

Warum auch eine Patchworkdecke Heimat sein kann

Meistens stört mich das kein bisschen. Unter meiner gesamtdeutschen Patchworkdecke kann ich es mir überall gemütlich machen. Ich bekomme Heimatgefühle, wenn im Schwarzwald die Bächlein am Wegesrand gluckern; wenn ich in meinem Hamburger Schlafzimmer die Nebelhörner von der Elbe höre; wenn ich mit der S-Bahn durch den Berliner Grunewald fahre, wo meine Mutter im Kinderwagen spazieren geschoben wurde. Ja, sogar in Erfurt, Weimar, Halle/Saale weht mich etwas Vertrautes an, obwohl man meiner Großmutter ihre Herkunft überhaupt nicht anhörte. Der bayerische Exil-Metzger in meinem Altonaer Einkaufszentrum macht hervorragende Weißwürste, und Tapas bestelle ich gerne auf Spanisch. Nur manchmal, da macht es mich nicht satt, dieses heimatliche Fingerfood. Dann beneide ich meine Halbschwestern tatsächlich, die schon ihr ganzes Leben in jener bayerischen Kleinstadt verbringen. Und dort mit ihren Kindern auf Biergartenbänken sitzen, auf denen sie selbst vor 30 Jahren Fanta ausgeschüttet haben. Andererseits: Jedes Jahr die gleiche Band beim Feuerwehrfest? Und will ich wirklich die lokale Gerüchteküche anheizen, wenn ich mit einem anderen Mann ein Bier trinken gehe als mit dem, mit dem ich verheiratet bin?

Vielleicht sollte ich es machen wie mein alter Freund Frank, ein rastloser Umzugskistenpacker und Jobnomade auch er. Einmal im Jahr fährt er allein für ein paar Tage auf eine Nordseeinsel. Ein Fixpunkt, mit den immergleichen Dünen, dem immergleichen Leuchtturm, an dem er einen wichtigen Menschen trifft: sich selbst. Auch eine Art Heimat: ein Spiegel, der immer gleich bleibt, auch wenn sich das eigene Spiegelbild darin verändert. Vielleicht ist es aber noch viel einfacher: Man kann sich einen Ort zur Heimat wählen – aber ein echtes Zu-Hause-Gefühl stellt sich doch vor allem dort ein, wo die Menschen sind, mit denen man verbunden ist. Jedenfalls denke ich das immer mehr, je älter ich werde. Das kann in einem Viertel sein wie Hamburg-Ottensen, in dem ich mittlerweile bei jedem Einkaufsbummel ähnlich viele Bekannte treffe wie mein Vater und meine Schwestern an ihrem bayerischen Heimatort. Das kann an einem abstrakten Ort sein wie im Internet. Aber vielleicht ist Heimat auch nur ein Gefühl, das jeder auf eine schmerzlich-schöne Weise vermisst, und dem keiner so ganz nahe kommt. Egal, ob er alle zwei Jahre den Ort wechselt oder nie. Denn wie der Philosoph Ernst Bloch es formulierte: „Heimat ist, was allen in die Kindheit scheint, und wo noch niemand war.“

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