Meckermenschen: Vorsicht, bad vibes!

„Entschuldigung, kann ich Sie eben was fragen?“ Ich blickte von meinem Platz in der ICE-Vierersitzgruppe auf und einer älteren Dame in die Augen. Was die wohl von mir wollte? Vor meinem geistigen Auge liefen verschiedene Filme parallel ab. Eine Auskunft über die Anschlusszüge in Hannover (aber warum von mir?), meine Zeitung ausleihen (aber warum gerade diese?), oder ein Autogramm (wegen plötzlicher Blogger-Prominenz?)

Seit zwei Stunden tippen Sie auf Ihrem Laptop. In einer unglaublichen Geschwindigkeit. Und einer unglaublichen Lautstärke. Ich habe ste-chen-de Kopfschmerzen! Können Sie damit aufhören? Oder wenigstens das Geräusch ausschalten?“

„Äh…“, verdattert klickte ich in meinem Menü herum auf der Suche nach einer Stummschalt-Option, bis mir ein Sitznachbar zu Hilfe kam: Nein, das könne ich wohl nicht, das sei schließlich ein mechanisches Geräusch. Aber ob die Dame schon mal darüber nachgedacht hätte, sich einen Platz in der Ruhezone zu suchen? Die sei am anderen Ende des Ganges. Kopfschütteln ihrerseits: Nein, die Ruhezone beziehe sich ausschließlich auf Handy-Anrufe! In ihrem persönlichen Umkehrschluss hieß das wohl: In der Ruhezone darf man nicht telefonieren, in der Unruhezone dafür kein anderes Geräusch von sich geben. Am besten auch nicht Luft holen. So wie es einer Bekannten von mir ging: Bei der beschwerte sich ein Mitreisender, sie würde so aggressiv atmen.

Meckermenschen

Meckermenschen anno 1975: Verena, trotz Eis unzufrieden mit der Gesamtsituation (c) privat

Meckermenschen – am schlimmsten sind sie in stationärer Form

Meckermenschen gibt es immer und überall, und ich habe manchmal den Eindruck, sie suchen förmlich nach einem Grund, sich zu beschweren. So wie die Sorte von Pauschalreisenden, die schon mit der Frankfurter Tabelle für Reisemängel durch ihr Hotel tigern, ehe sie auch nur ihren Koffer ausgepackt haben, und Notizen machen à la: staubige Ecke im Speisesaal = drei Prozent Minderung des Gesamtpreises. In einem Bus hat mich mal ein junger Mann ausführlich gerügt, weil mein zehn Monate (!) alter Sohn sich mit fröhlichem Glucksen über die Autos vor dem Fenster freute: Ich hätte das gefälligst zu unterbinden, das sei meine Erziehungsaufgabe. Auf einem Flug bekam ich kurz nach dem Abheben vom Sitz hinter mir einen eingeschenkt, ich würde in meinen Haaren herumfummeln, das sei irritierend.

Öffentliche Verkehrsmittel scheinen ein besonders beliebtes Habitat jener Zeitgenossen zu sein, die nur glücklich sind, wenn sie unglücklich sind. Und das eigene Unglück ihren Mitmenschen möglichst quälend in die Schuhe schieben können. Immerhin kann man diesen Leuten irgendwann auch wieder aus dem Weg gehen, der längste Flug und die umständlichste Busfahrt sind irgendwann zu Ende. Schlimmer ist es, wenn man es stationär mit einem Exemplar dieser Spezies zu tun hat. So wie mit der unvergessenen Frau Schmidt damals in München, die ich am Telefon hatte, zehn Minuten nach dem ich angefangen hatte, meine erste WG-Umzugskiste in meinem neuen Zimmer auszupacken: „San Sie des mit der wahnsinnig lauten Musik?“ Später stand die gute Frau aus dem ersten Stock auch mal mit der ausgedruckten Hausordnung vor unserer Wohnungstür, weil wir es gewagt hatten, um 14.57 einen Nagel in die Wand zu schlagen. Drei Minuten vor Ablauf der offiziellen Mittagsruhezeit.

Lebensmotto: Wir kommen, um uns zu beschweren!

Wahrscheinlich gibt es nur eine Methode, mit solchen Unglücksgeistern und ihren Bad Vibes klarzukommen: freundlich auflaufen lassen. Immerhin: Das beherrsche ich seit dem Überschreiten der 40 ganz gut. Ich muss nicht mehr hektischen Gehorsam leisten, ich muss Vorwürfe auch nicht mehr aggressiv zurückweisen – ich höre mir das erst an und erkläre dann ganz freundlich, warum ich Beschwerden für unangebracht halte. Denn selbst wenn man brav täte, was der Meckermensch will, er sucht sich ohnehin gleich etwas Neues. Hätte ich mit dem Tippen aufgehört, dann hätte sich die Dame wohl über meinen leeren Gesichtsausdruck mokiert, mit dem ich fürderhin aus dem Zugfenster gestarrt hätte. Oder über das Zischen einer Wasserflasche. „Wir kommen, um uns zu beschweren“ – der Titel eines Tocotronic-Albums aus den Neunzigern ist für manche Menschen Lebensmotto und Lebensziel.

Ob diese Eigenschaft auch was Gutes hat? Ja, hat sie durchaus. Wenn auch indirekt. Es gab in meinem Leben nämlich nicht nur irritierende Erfahrungen mit Nachbarn aus dem Stock darunter – es gab auch eine wirklich herzerwärmende. Und zwar aus der Zeit, in der meine Kinder noch keine Youtube-guckenden, angehenden Teenies waren. Sondern temperamentvolle Kleinkinder, die sich hörbar beschwerten, wenn sie mit der Gesamtsituation unzufrieden waren. Irgendwann klingelte ich bei der älteren Frau direkt unter uns, brachte ihr ein paar Weihnachtskekse vorbei und entschuldigte mich pauschal – denn ich weiß wohl, dass Altbauten hellhörig sind und Kindergeschrei nicht immer reizend. „Ach, wissen Sie“, sagte Frau Weinert, „als wir vor 40 Jahren in dieses Haus gezogen sind, waren unsere Kinder so klein wie jetzt Ihre. Und jeden Tag gab es Beschwerden von den alten Ziegen, die im Erdgeschoss wohnten. Damals habe ich mir geschworen: Wenn ich je in meinem Leben in die umgekehrte Situation komme, ich werde nie eine von denen!“

Mittlerweile lebt sie in einem Seniorenstift, ab und zu sehe ich sie noch immer im Viertel, und jedes Mal denke ich: Über Meckermenschen ärgere ich mich kurz und vergesse sie dann wieder – aber Großzügigkeit und Verständnis wärmen mich über Jahre.

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