Flüchtlingshilfe: einfach da sein

Ob Sena ihren Kuchen essen konnte? Vergangene Nacht hielt mich der Gedanke wach. Gestern habe ich in der Zentralen Erstaufnahme in der Flüchtlingshilfe ausgeholfen. Es war so wenig, was ich tun konnte. Oder doch nicht?

Noch vor wenigen Wochen lagerte eine Firma ihre Ware hier im Industriegebiet am Stadtrand, jetzt übernachten dort Menschen. Rund 1000 Gäste, so nennen sie die Mitarbeiter vor Ort, und ein Ende ist nicht abzusehen. Es musste alles schnell gehen, wie ich auf einer kurzfristig einberufenen Informationsveranstaltung für Anwohner im August erfuhr. Man habe keine Wahl, so der Bezirksamtsleiter. Auch eine Behördensprechern erklärte, die Situation sei dramatisch. Jede mögliche Unterbringung müsse genutzt werden. Viele Nachbarn waren gekommen, wollten wissen, wie die Flüchtlinge denn dort wohnen würden, wie es mit den sanitären Einrichtungen im ehemaligen Logistikzentrum aussehe. Die häufigste Frage: Wie können wir helfen?

Viel schneller als gedacht, waren die Flüchtlinge hier

Eigentlich sollte noch einiges umgebaut werden. Trennwände, Lärmschutz für ein wenig Privatsphäre. Doch die aktuellen Entwicklungen ließen keine Zeit für Pläne: Ganz schnell musste die neue Zentrale Erstaufnahme bezogen werden. Innerhalb weniger Stunden hatten Bundeswehr und THW Feldbetten in den drei großen Hallen aufgebaut. Sonst hätten Menschen im Freien schlafen müssen. In der ersten Woche waren die bestellten Duschcontainer noch nicht geliefert, die vorhanden Duschen reichten kaum.

Auch ich fragte mich: Was kann ich tun? Dass überhaupt eine Flüchtlingseinrichtung eingerichtet wird,  keine zehn Fahrradminuten von unserer Wohnung entfernt, hatte ich durch Zufall gelesen. Auf Twitter vernetzte ich mich mit drei anderen Social-Media-Aktiven aus dem Ortsteil. Mittlerweile gibt es eine Webseite, eine Facebookgruppe und eine Koordinierungsgruppe. Bald auch eine Vollversammlung aller Helfer und Helferinnen. Dabei ging es aber erst einmal nicht darum, weitere Helfer zu mobilisieren, eher im Gegenteil. Noch können keine Spenden vor Ort angenommen werden. Noch ist kein Bedarf für Gruppenangebote oder ein organisiertes Fest. Unsere erste große Aufgabe: Stopp sagen. Auch zu gut gemeinten Angeboten.

Denn die Menschen, die hier ankommen, haben gerade erst ihre Flucht überstanden. Sie kommen aus den Zügen aus München, waren oft lange in Ungarn, haben traumatische Dinge auf ihrer Reise und in ihrer Heimat erlebt. Nicht alle werden bleiben dürfen. Es sind viele Familien. Aus Syrien, aus Afghanistan, aus dem Iran, aus Albanien und dem Kosovo. Hier in der Zentralen Erstaufnahme werden sie registriert, untersucht und danach weiter verteilt. Einige werden in Hamburg bleiben, andere müssen wieder in Züge steigen. Der kurze Aufenthalt bedeutet für die Helfer: Langfristige Patenschaften, Beziehungen aufbauen – das wird nicht möglich sein. Jedenfalls nicht so schnell.

Flüchtlingshilfe leisten so viele an so vielen Orten, auch an den Bahnhöfen

Angekommen in Deutschland. Und dann? © Richard Gutjahr

Flüchtlingshilfe vor Ort – einfach da sein

Das erste größere Projekt: eine Kleiderkammer einrichten. Und dann sind da eben doch kleine Aufgaben, bei denen wir Ehrenamtlichen helfen können. Vor ein paar Tagen öffnete das benachbarte Gymnasium seine Sporthalle, so konnten die Frauen und Kinder lange warm duschen. Das Krankenhaus stellte Handtücher, auch Duschzeug und Shampoo war organisiert. Etwa zwanzig Helferinnen und Helfer begleiteten kleine Gruppen auf einem etwa 15 Minuten langen Fußweg. In meiner Gruppe waren sechs Frauen zwischen zwanzig und etwa vierzig und etwa acht Kinder, vom Baby bis zum Grundschulalter. Ein paar Brocken Englisch, Hände und Füße mussten zur Verständigung reichen. Ich sah in die Gesichter der Mütter. Sie sahen so müde aus. Nach der Dusche zeigten sie ihre Freude. „No this, no long time. Soo good!“ Sie umarmten sich, lachten, zogen tief die Luft ein um zu zeigen, wie gut das Frischegefühl tat. Das Lachen der Kinder, die Freude der Frauen und das aufgeregte Quietschen eines etwa Vierjährigen, als er eine Nacktschnecke sah, das hat mich beeindruckt.

Ich weiß nicht, ob diese Frauen und ihre Kinder noch immer in einer der Hallen schlafen. Aber ich weiß seit gestern, wie es in den Hallen genau aussieht. Denn es kam ein kurzer Aufruf. Kurzfristig wurden wieder Helfer gesucht. In der Nacht waren fast 400 neue Asylsuchende angekommen. Nun wurden noch weitere 74 Menschen erwartet.

Die Aufgabe für uns Ehrenamtliche war, sie bei der Ankunft zu begleiten. Einfach da sein und freundlich sein. In Gruppen von etwa zehn mussten sie quer über das Gelände gehen, dann wurden die Namen und die Geburtsdaten aufgenommen. Jeder bekam einen Schlafsack, ein kleines Starter-Set mit Zahnbürste und Hygieneartikeln und die Kinder noch ein kleine Tüte mit Lebensmitteln. Danach ging es  in die Schlafhallen, später sollten alle in der Kantine mit Essen versorgt werden.

Auch ein Willkommensfest kann Flüchtlingshilfe sein

Zwei Frauen aus Syrien © Humans of Hamburg

Begegnungen mit Geflüchteten, die ich nie vergessen werde

Ich begleitete drei Gruppen, eine davon bis zu ihren Betten. Die erste Familie kam aus Syrien. Die Kommunikation war sehr einfach, denn der Familienvater sprach deutsch. „Ich bin Ingenieur. Ich habe hier Maschinenbau studiert, vor vielen Jahren.“ Er entschuldigt sich, dass er Worte suchen muss. „Ich wollte meinem Land etwas geben, aber ich muss an die Kinder denken. Hoffentlich können wir irgendwann wieder etwas aufbauen. Aber die Kinder möchten so gern zur Schule.“ Die Flucht ging über die Türkei, nach Ungarn. „Jetzt sind wir hier. Endlich sicher.“ Vier Kinder hat die Familien, in einem Fach des Rucksacks der etwa 8-jährigen Tochter war die gleiche Playmobil-Prinzessin zu sehen, die meine Tochter auch hat. Der Vater trug das Kleinkind, die Mutter ließ über ihren Mann fragen, ob es Babynahrung gebe. Als wir alle in der riesigen Halle ankamen, blieb mir kurz die Luft weg. So viele Menschen auf Feldbetten auf so engem Raum. Schlafende Menschen, eine Gruppe Männer, die Karten spielt, eine Frauengruppe, die für sich eine kleine Ecke gefunden hatte. Schließlich fanden wir frische Betten. Ich verabschiedete mich. Und dachte an den neugierigen 9-jährigen, der so viele Fragen an mich hatte, die sein Vater übersetzte. Ob ich Kinder habe? Wie ich heiße? Auch ich habe Fragen. Ob der Junge bald zur Schule gehen darf? Ob die Familie hier in Hamburg bleiben kann?

In der zweiten Gruppe wurde ich gefragt, was „Thank you“ auf deutsch heißt. Eine der Mütter übersetzte, und drei Kinder riefen im Chor: „Danke“. Dabei hatte ich nicht viel gemacht, außer danebenstehen und den Weg zeigen. Aber plötzlich wurde mir klar, dass das genau die Hilfe war, die hier gebraucht wurde. Einfach da sein. Kleine Fragen beantworten. Ja, es gäbe bald etwas zu essen. Es gäbe Betten für alle und auch duschen wäre bald möglich. Mittlerweile sind die Container nämlich angekommen.

Sieben Jahre alt und endlich nicht mehr auf der Flucht

In der letzten Gruppe fiel mir eine junge Familie auf. Die Mutter trug das Jackett eines Security-Mitarbeiters um die Schultern. Bei ihrer Ankunft hatte sie so gezittert, dass der junge Mann nicht gezögert hatte und nun im Hemd da stand. Auch ihr Mann war zu sommerlich für Hamburger Herbsttemperaturen gekleidet, mit seiner Shorts und seiner dünnen Sweatshirt-Jacke. Vater und Tochter hatten beide gestrickte Beanies auf dem Kopf, im Hipster-Stadteil würden sie kaum auffallen. Sie seien aus Damaskus, erzählte mir der Vater. Seine Tochter hatte große blaue Augen, kuschelte sich eng an ihn. Und zeigte auf eine Schachtel. Der Vater öffnete sie. Eine Geburtstagstorte, Marzipan und Sahne. „Heute ist der siebte Geburtstag meiner Tochter Sena“, erzählte er in fließendem Englisch. „Wir haben kein Geschenk für sie, aber am Bahnhof habe ich es geschafft, diesen Kuchen zu kaufen.“ Er sagte etwas zu seiner Tochter, das ich nicht verstand. Aber ich sah, dass sie mit den Tränen kämpfte. „Ich habe gesagt, dass sie im nächsten Jahr bestimmt mit neuen Freunden feiern kann. Wir sind so froh, dass wir hier sind.“ Am liebsten wäre ich sofort nach Hause gefahren und hätte irgendein Geschenk für die Kleine besorgt. Aber wie hätte ich die Familie wiederfinden sollen? Und wie hätte sich wohl die anderen Kinder gefühlt, die leer ausgegangen wären?

Bei der Anmeldung fragte ich extra nach: Dürfen die Leute ihren Kuchen mitnehmen? „Nein, das geht nicht. Es sind zu viele Leute da drin, das gibt Streit, das wird dem Kind noch weg genommen.” Aber der Mitarbeiter hatte sofort eine Idee: “Du bringst den Kuchen zur Rezeption und später kann die Familie ihn dort abholen. Wir machen es möglich, dass sie in Ruhe feiern können.“ So vertraute mir die Familie ihre kostbare Pappschachtel an. Meine Gedanken rasten. Mein eigener Sohn hat auch im September Geburtstag. Es gibt Torte und Geschenke, die Großeltern und seine Freunde werden kommen. Und das ist eben gar nicht selbstverständlich.

Ob Sena gestern ihren Kuchen essen konnte? Ich weiß es nicht. Die Begleitung von uns Ehrenamtlichen hat ein wenig geholfen. Aber viele Fragen bleiben auch für uns offen.Wann werden die Menschen erfahren, wie es für sie weitergeht? Wo werden sie ein neues Zuhause finden? So viel Unsicherheit, aber auch so viel Hoffnung. Wenn ich kann, helfe ich weiter. Aber am nächsten Wochenende feiere ich Kindergeburtstag. Mit dem Gedanken an Eltern, die sich nichts mehr wünschen, als so eine Feier und ein Stück Alltag für ihre Kinder. Und an ein Mädchen und seinen Geburtstagskuchen.

Wie jeder ein wenig Hilfe leisten kann, habe ich hier geschrieben: #BloggerFuerFluechtlinge: Jeder kann etwas tun!

2 Replies to “Flüchtlingshilfe: einfach da sein”

  1. Claudia

    Puh… ich sitze hier und heule, weil auch meine Tochter nächste Woche Geburtstag hat… Das was diesen Menschen widerfahren ist, ist unfassbar.

    Danke für deinen Bericht. auch wir haben jetzt eine Unterkunft für 500 Menschen innerhalb von zwei Tagen aus dem Boden gestampft und ich kann nur hoffen, dass die Hilfsbereitschaft nicht abreist.

    Mit lieben Grüßen vom Deich
    Claudia

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    • Silke R. Plagge Author des Beitrags

      Liebe Claudia,
      danke dir. Ich hoffe auch sehr, dass die Hilfsbereitschaft bleibt, denn sie wird noch lange nötig sein! Alles Liebe, Silke

      Antwort

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